Grafisch-abstrakte Raumdarstellung mit Wänden und Vorhang

Räume für Alle

Wie kann gute Raumgestaltung das Leben von neurodivergenten Menschen verbessern?

Inklusion ist ein wichtiges Thema in der Architektur, zumindest was körperliche Beeinträchtigungen angeht. Es gibt jedoch auch neurologische Besonderheiten, Neurodivergenz genannt, die in der Planung bisher relativ wenig Beachtung finden. Warum sollten wir das ändern? Einerseits um diese Menschen nicht auszuschliessen oder zu beeinträchtigen. Und andererseits, um dieses grosse gesellschaftliche Potenzial zu nutzen, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt.

Neurodivergente Menschen machen schätzungsweise fast ein Viertel der Gesellschaft aus. Sie entsprechen in ihrer Wahrnehmung oder in ihrem Verhalten nicht dem «Standard». Gegenüber diesen sogenannten neurotypischen Menschen verarbeitet ihr Gehirn Informationen anders. Darunter fällt zum Beispiel das ganze Autismus-Spektrum, ADHS oder Hochsensibilität. Diese Menschen nehmen etwa Reize aus der Umgebung sehr intensiv wahr, können sie nicht ausblenden, lassen sich schnell ablenken oder können Gefühlsausdrücke bei anderen nicht erkennen. Die Ausprägungen sind sehr vielfältig, deswegen ist es unmöglich, hier zu verallgemeinern. Eine Gemeinsamkeit gibt es aber: Sie entsprechen nicht der gesellschaftlich festgelegten Norm. Aus diesem Grund werden ihre Bedürfnisse in der Architektur bisher wenig bis gar nicht beachtet. Gleichzeitig reagieren diese Menschen sehr sensibel auf ihre Umgebung. Sie sind also ganz besonders darauf angewiesen, dass die Räume für sie mindestens erträglich und im Idealfall sogar angenehm sind. Um das breite Spektrum greifbarer zu machen, schauen wir uns drei Beispiele an und wie wir die räumliche Situationen in diesen Fällen konkret verbessern könnten.

Hochsensibilität

Etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gelten als hochsensibel. Diese Menschen nehmen mehr Eindrücke aus der Umgebung wahr als neurotypische Menschen und erleben Reize wie Licht, Geräusche oder emotionale Stimmungen anderer Menschen intensiver. Aus diesem Grund brauchen sie auch länger, um die erlebten Eindrücke zu verarbeiten. Hochsensible Personen erleben schneller eine Reizüberflutung und brauchen oft mehr Zeit für Erholung. Ihre intensive Wahrnehmung kann ihnen aber auch ermöglichen, Details zu bemerken, die anderen entgehen.

Aus diesen Eigenschaften ergeben sich konkrete Anforderungen an den Raum: Hochsensible Personen brauchen die Möglichkeit, Reize äusserlich abzuschirmen, da sie es innerlich nicht können. Dies kann über Schallschutzelemente, Licht-Dimmer, Vorhänge, Storen oder Türen sein. Sie brauchen grundsätzlich ein ruhigeres und reizärmeres Umfeld als neurotypische Menschen. Nur so können sie sich auf das konzentrieren, was für sie wichtig ist, wie zum Beispiel Arbeit oder Erholung. Umgebungen, die Hochsensible stark belasten können, sind zum Beispiel Grossraumbüros, Grossveranstaltungen und die Verkehrs-Rush-Hour am Bahnhof. Ein angenehmer Raum oder Naturerlebnisse können hochsensible Personen hingegen stärken. Sie können aus dieser Kraftquelle stärker schöpfen als neurotypische Menschen. Für die Raumgestaltung bieten sich sanfte und neutrale Farben an, indirektes Licht und weiche Materialien, die Schall absorbieren wie Vorhänge oder Teppiche. Minimalistische und aufgeräumte Räume vermitteln hochsensiblen Personen Ruhe und Klarheit.

ADHS

Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, haben Menschen oft Schwierigkeiten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren oder still zu sitzen. Dies kann zu Herausforderungen im Alltag und in sozialen Situationen führen. Es gibt unterschiedliche Typen, die entweder durch Aufmerksamkeitsprobleme, Hyperaktivität oder eine Kombination davon geprägt sind. Während man früher davon ausgegangen ist, dass ADHS nur Kinder betrifft und es sich irgendwann «auswächst», weiss man heute, dass es eine Persönlichkeitseigenschaft ist, die bleibt. Menschen mit ADHS können bei bestimmten Interessen aber auch eine enorme Konzentrationsfähigkeit – einen sogenannten Hyperfokus – entwickeln und sind oft sehr kreativ. In der gesamten Bevölkerung haben etwa 5 Prozent die Diagnose ADHS.

Da sich Menschen mit ADHS schnell ablenken lassen, sind strukturierte und ordentliche Räume wichtig. Allerdings können zu minimalistische Räume sie auch langweilen und das Bedürfnis nach Stimulation nicht befriedigen, was ebenfalls Stress auslöst. Am besten sind klar abgegrenzte Räume für verschiedene Aktivitäten. Dabei könnte es bewusst reizarme Rückzugsorte geben und andere Räume, die eine gewisse Stimulation bieten und der Langeweile entgegen wirken. Hier bieten sich zum Beispiel Farbakzente, verstellbare Möblierung oder offene Regalen an. Dies kann Menschen mit ADHS helfen, den Überblick zu behalten und sich wohl zu fühlen.

Autismus

Autismus-Spektrum-Störungen betreffen etwa 2% der Bevölkerung. Sie umfassen eine Bandbreite neurologischer Unterschiede, die sich im sozialen Miteinander, in der Kommunikation und im Verhalten zeigen. Menschen im Autismus-Spektrum können zum Beispiel Schwierigkeiten haben, Mimik und Gestik des Gegenübers zu verstehen. Sie reagieren oft empfindlich auf sensorische Reize und haben ein starkes Bedürfnis nach Struktur und Routinen. Manche Menschen im Spektrum verfügen auch über außergewöhnliche Fähigkeiten, wie zum Beispiel herausragendes analytisches Denken. Sie arbeiten oft sehr präzise und gewissenhaft. Daher ist es nicht verwunderlich, dass einige grosse IT-Firmen sich dafür einsetzen, die Arbeitsbedingungen für Menschen im Autismus-Spektrum aktiv zu verbessern.

Ähnlich wie bei Hochsensibilität können Menschen im Autismus-Spektrum sensibel auf grelles Licht, laute Geräusche oder bestimmte Gerüche reagieren, da sie sie nicht ausblenden können. Um diese Personen vor einer sensorischen Überreizung zu schützen, hilft es daher auch hier, die Reize abzuschirmen, zum Beispiel durch abtrennbare Räume, dimmbares Licht und schalldämpfende, weiche Materialien. Da Menschen im Autismus-Spektrum Struktur sehr wichtig ist, können unvorhersehbare Veränderungen in der Umgebung oder eine unlogische Raumgestaltung grossen Stress verursachen. Ein einfacher, übersichtlich strukturierter Einrichtungsstil ohne unnötige visuelle Reize kann hingegen beruhigend wirken. Auch eine geschützte Ecke oder eine Wand im Rücken kann Sicherheit vermitteln.

Nutzen für Alle

Der Übergang zwischen neurodivergent und neorotypisch ist fliessend. Deshalb sind natürlich auch nicht alle neurotypischen Menschen gleich. Viele haben vielleicht eine Tendenz hin zu ADHS, Autismus oder Hochsensibilität, ohne dass es ihr Leben grundsätzlich beeinträchtigt. Daher würden auch neurotypische Menschen davon profitieren, wenn Räume vielfältiger gestaltet werden und nicht auf eine eng gesteckte Norm ausgerichtet werden. In guten Momenten kann ein «normaler» Mensch den Lärm des Grossraum-Büros vielleicht gut ausblenden, geniesst unter Umständen sogar die lebendige Atmosphäre. In einem weniger guten Moment, wenn vieles zusammen kommt, sehnt sich der gleiche Mensch jedoch nach Rückzug und Abschirmung, um die strapazierten Nerven zu beruhigen. Eine Architektur, die die Vielfalt der menschlichen Psyche berücksichtigt, kommt also allen zugute.

Konkrete Umsetzung

Wenn du dich von diesem Thema angesprochen fühlst und etwas in deinem eigenen Umfeld ändern möchtest, kannst du so beginnen: 

  1. Analysiere zuerst, auf welche Eindrücke du besonders sensibel reagierst. Von was brauchst du mehr, von was weniger? Überlege dir, wie deine Umgebung im Idealfall aussehen, klingen und riechen würde. Überleg es dir ganz konkret und sei wirklich ehrlich mit dir.
  2. Motiviere dich, etwas zu ändern. Überlege dir, was die Konsequenz wäre, wenn du tatsächlich so wohnen oder arbeiten könntest. Vielleicht könntest du dich besser konzentrieren und wärst am Abend weniger müde und ausgebrannt? Oder du könntest dich zuhause vollständig erholen und neue Kraft schöpfen? Was bedeutet das für deine Leistung und deine Lebensqualität?
  3. Komm nun zur Umsetzung. Gibt es Punkte, die du ganz einfach und schnell umsetzen kannst? Dann mach es jetzt sofort. Schon kleine Veränderungen können eine grosse Erleichterung bringen. Aus den anderen Punkten kannst du ein Projekt machen und vielleicht auch andere Menschen sensibilisieren, zum Beispiel indem du mit deiner Arbeitgeberin sprichst. Bleib dran, denn es wird sich für dich auszahlen.